Gedenken am 9. November 2019
Unter dem Motto „Geislingen gegen Antisemitismus – Gedenken am 9. November“ fand am Samstag, dem 9. November 2019 eine Gedenkveranstaltung mit anschließendem Gedenkmarsch zur KZ-Gedenkstätte statt. Die Geislinger Initiative „erinnern – ehren – versöhnen“ organisierte im großen Saal des Gemeinschaftshauses des Roten Kreuzes in der Heidenheimer Straße 72 eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 9. November. Unter den zahlreichen Teilnehmern befanden sich neben vielen Jugendlichen auch Oberbürgermeister Dehmer mit seiner Frau sowie Dekan Elsässer.
Eva Kerner gab eine kurzen Überblick über die Bedeutung des 9. November in der deutschen Geschichte. Neben der Würdigung des 9. November 1989, an dem vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel und den friedlichen Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete, fielen das Ende des Kaiserreiches und der Beginn der Weimarer Republik, der ersten Demokratie Deutschlands, der Hitlerputsch – der von der bayerischen Polizei verhindert werden konnte, die Gründung der SS sowie die Pogromnacht „Reichskristallnacht“ 1938 auf einen 9. November. Auch die Göppinger Synagoge brannte – und im jüdischen Museum Jebenhausen – übrigens eins der am frühesten gegründeten jüdischen Museen in Deutschland überhaupt, kann man sehen, wie Göppinger Feuerwehrmänner am Löschen der Synagoge gehindert werden. Jüdische Geschäfte wurden auch in Göppingen zerstört und jüdische Männer verhaftet.
„Antisemitismus ist eine persönliche Entscheidung“ zitierte Eva Kerner den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster.
Sie führte aus, dass niemand z.B. als Christ geboren sei, sondern immer sei es eine persönliche Entscheidung, dem Juden Yeshua, Jesus, nachzufolgen – wie es seine ersten Jünger, ebenfalls alles Juden, taten, als Jesus sie an ihrer Arbeitsstelle traf und aufforderte, mit ihm zu kommen. Da ist eine Entscheidung gefragt, auch heute noch.
Als weiteres Beispiel dafür, dass jede und jeder immer eine Wahl hat, nannte sie Adolph Schoofs, Werksmeister in der WMF zu der Zeit, als die 800 jüdischen Mädchen und Frauen dort Zwangsarbeit leisten mussten. Schoofs traf die persönliche Entscheidung, diesen Menschen zu helfen – wohl wissend, dass er dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Er hatte eine Wahl, er traf eine persönliche Entscheidung.
„Auch wir heute, jeder und jede Einzelne, haben eine Wahl und treffen eine persönliche Entscheidung – heute sind wir hier um GEGEN Antisemitismus aufzustehen – in Geislingen – am 9. November 2019“ rief Kerner den Anwesenden zu.
Anschließend zeigte Rosemarie Schneider anhand von Fotos die Geschichte vom Kennenlernen der überlebenden Frauen in Israel, die im KZ- Außenlager Geislingen inhaftiert waren und Zwangsarbeit für die WMF leisten mussten, über die Entstehung der Namenstafel vor der WMF und der Gedenkstätte am Tälesbahnradweg bis hin zu den in keiner Weise selbstverständlichen guten, freundschaftlichen Beziehungen zu den Familien der ehemaligen KZ-Insassen heute.
Im Februar 2015, wenige Wochen vor dem geplanten Schweigemarsch und der Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes reiste Familie Schneider für eine Woche nach Israel.
„Über jemanden, die jemanden kannte, der jemanden kannte“, kam so im Februar 2015 der Kontakt zu Hanna Mann, geb. Helen Jeckel, zustande. Hanna Mann konnte krankheitsbedingt nicht zur Gedenkveranstaltung anreisen, aber ihre Tochter und ihr Enkel, Malka und Mordi Zissman, sowie ihre Schwägerin Gisela Mann kamen aus Israel nach Geislingen.
Frau Schneider berichtete weiter, wie der Gastgeber der Pension, in der sie untergebracht waren, wenige Tage zuvor Besuch einer Cousine erhielt, die ihn auf den großen WMF Karton auf seinem Küchenschrank ansprach: „Meine Mutter war dort in Geislingen im KZ.“ Herr Lavie, der Gastgeber, konnte nur staunend sagen, dass das „der da oben“ arrangiert habe, so etwas könne kein Zufall sein, bisher habe er nichts davon gehört und nun kommen innerhalb weniger Tage seine Cousine und Familie Schneider und sprechen über die Zwangsarbeiterinnen des KZ- Außenlagers Geislingen. Ob Familie Schneider diese Frau auch kennenlernen möchte? So kam der Kontakt zu Miryam Sobel zustande, die mit ihrer Tochter, Chani Rieger (besagte Cousine) mit ihrer Familie und ihrem Sohn Haim Sobol mit seiner Familie im Jahr 2015 nach Geislingen kamen.
Ebenfalls auf dieser Reise konnte Familie Schneider die Namen der 800 jüdischen Mädchen und Frauen in Yad Vashem ausfindig machen, in Folge dessen die WMF die Gedenktafel mit allen eingravierten Namen vor ihrem Firmengebäude aufstellte.
Lenka Weksberg, die mit ihren vier Schwestern in Geislingen inhaftiert war, kam im November 2015 aus Kanada mit einem Dankesbrief in der Tasche zur WMF, den sie dem damaligen CEO Peter Feld gab und der sie über das Firmengelände führte. Es war für Lenka Weksberg sehr wichtig, auch das Grab von Adolph Schoofs zu besuchen, der ihnen damals unter Lebensgefahr half, sie z.B. während der Arbeitszeit schlafen ließ und aufpasste, dass sie nicht entdeckt wurden.
Weiter wies Frau Schneider in ihrer Präsentation auf die von der Rätsche initiierte Verlegung der Stolperschwelle auf dem Gehweg vor der WMF hin und erläuterte das Motiv der Holzschuhe bei der Gedenkstätte. In Holzschuhen musste täglich der Weg vom KZ-Außenlager bis zur WMF zurückgelegt werden – an das Geräusch kann sich noch mancher ältere Mensch erinnern. Als Schülerinnen des Michelberg Gymnasiums 2015 in Holzschuhen zur Gedenkveranstaltung kamen, berührte das Miryam Sobel sehr stark – ein innerer Film lief ab. Sie war ebenso wie ihre Tochter Chani nicht in der Lage, ihre geplante Rede in der Jahnhalle zu halten. Umso ergreifender war die Geste Chanis, die sich spontan in die israelischen Tänze einreihte, die zum Abschluss der Veranstaltung 2015 aufgeführt wurden.
Auch zur Einweihung der Gedenkstätte am Radweg kamen die Familien der mittlerweile verstorbenen Hanna Mann und Miryam Sobel.
Diese freundschaftliche Verbundenheit zwischen Überlebenden des KZ-Außenlagers Geislingen, ihren Nachfahren und Geislinger Bürgern heute ist keineswegs selbstverständlich. Die Initiative „erinnern – ehren – versöhnen“ möchte diese Beziehungen ausbauen und vertiefen durch die Förderung von Begegnungen der jungen Generation Geislingens und Israels. Im April und Juni 2020 werden 13 Geislinger Schülerinnen und Schüler sowie 13 junge Israelis sich unter dem Motto „remember yesterday – live today – shape tomorrow“ mit der jeweiligen Erinnerungskultur beschäftigen und sich gegenseitig ihre Länder zeigen. Diese Begegnungen werden vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert sowie vom Albwerk Geislingen eG, der Volksbank Göppingen, der Kerner Cad for Cam GmbH Bad Überkingen, Mirjam Care GmbH und Co.KG Bad Überkingen und privaten Spendern unterstützt.
„Nicht mit einem Gewehr im Rücken, sondern stolz mit der Fahne Israels“ wie es Chani Rieger 2015 formulierte, nicht mit Antisemitismus im Herzen, sondern in ehrenvollem Gedenken an die Opfer und in freundschaftlicher Verbundenheit mit ihren Nachfahren, nicht mit Lichtern der Zerstörung sondern mit Lichtern der Hoffnung machten sich die ca. 50-70 Teilnehmer der Geislinger Gedenkveranstaltung gegen Antisemitismus anschließend mit Kerzen, Bannern und Israelfahnen in der Hand auf den Weg zur KZ-Gedenkstätte.
Dort las Leoni, Teilnehmerin des zukünftigen Schüleraustausches, aus Jeremia 31 u.a. „Ihr Völker, hört, was ich, Jahwe, sage, verkündet es auf den fernsten Inseln! Ruft: Gott hat die Israeliten in alle Winde zerstreut, aber nun sammelt er sie wieder und beschützt sein Volk wie ein Hirte seine Herde.“
Zum Abschluss der Veranstaltung, bevor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Kerzen an der Gedenkstätte abstellten, trugen Frau Schneider, ihre Tochter, sowie Charlotte, eine weitere Teilnehmerin des Israel Austausches das Lied „Osse Shalom“ auf Hebräisch und Deutsch vor: Der du Frieden schaffst in der Höhe, gib deinen Frieden auch auf Erden deinem Volke Israel, Frieden und Heilung für uns und Israel.
Eva Kerner