
9. November „Kristallnacht“ in Göppingen
Die Aktion „Kristallnacht“ war mit langer Hand von der NSDAP vorbereitet, von spontanem „Volkszorn“ wie die NWZ und GZ berichten, kann keine Rede sein. Der Göppinger Staatsarchivar Karl-Heinz Rueß schildert die Vorgänge um die „Kristallnacht“ sehr detailliert. Allerdings brauchte seine 1998 verfasste Darstellung der Vorgänge bis zu ihrer Veröffentlichung 60 Jahre!
Rueß schreibt: „Kreisleiter Imanuel Baptist wurde von der Gaupropagandaleitung in Stuttgart angerufen mit dem Hinweis: im Land brennen die Synagogen, die Wut des Volkes ist entbrannt. Ein genauer Befehl von der SA Ulm erreichte schließlich die Geislinger SA. Die Weisung verlangte, dass sofort sämtliche Synagogen niederzubrennen seien."
Die Geislinger SA traf sich im Wirtshaus „Kreuz“ (gegenüber dem Rathaus direkt an der Rohrach), man fuhr mit zwei Personenwagen und einem Lastwagen, auf dem Stroh geladen war, nach Göppingen. Einer kam sogar mit dem Fahrrad nach. Vor der Synagoge wurde der Trupp schon vom SA-Sturmbannführer erwartet. Kreisleiter Baptist ließ die Alarmlinie der Feuerwehrleute abschalten. Die Geislinger SA-Männer verschafften sich gewaltsam Zugang in die Synagoge. Dort entzündeten sie das herbeigeschaffte Stroh mit Benzin. Das Gebäude brannte völlig aus. Die Feuerwehr durfte nicht zum Löschen ausrücken. Ihrem Kommandanten Karl Keuler wurde schließlich erlaubt, einen Zug ausrücken zu lassen, um das Ausgreifen des Brandes auf die Nachbarhäuser zu verhindern. 50 - 80 Schaulustige umsäumten das feurige Spektakel und begleiteten es mit antisemitischem Grölen. Weil Keuler in dieser Nacht deutlich seinen Unmut äußerte, musste er bald seine Stelle als Feuerwehrkommandant räumen.
In der Pogromnacht war noch ein zweiter Auftrag zu erledigen. Dieser war von der Staatspolizei in Stuttgart gekommen. Alle männlichen Bürger jüdischen Glaubens zwischen 16 und 65 Jahren sollten festgenommen werden. Sie wurden beim Hotel Dettelbacher zusammengetrieben und in den folgenden Tagen in das KZ Dachau transportiert, wo sie während eines mehrwöchigen Gefängnisaufenthalts oft misshandelt wurden. Beim Abholen der Männer wurden auch Wohnungen durchsucht und die Einrichtung zerstört. Beim Kaufhaus Lendt in der Unteren Marktstraße wurden die Schaufenster eingeschlagen und die Auslagen geplündert….
Die Suche nach den Tätern begann erst Ende 1946. In Gang gesetzt wurde sie durch den Göppinger Gewerkschaftsbund. 1948 wurde die Anklageschrift dem Landgericht Ulm vorgelegt. Beschuldigt wurden 15 Personen des Landfriedensbruch, der gemeinschaftlichen Brandstiftung und des schweren Hausfriedensbruchs. Der Kreisleiter Immanuel Baptist erhielt zwei Jahren Zuchthaus.
Dr. Hansjürgen Gölz