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erinnern

Mit Gewehr im Rücken werden 800 jüdische Mädchen und Frauen täglich durch Geislingen getrieben.

Das KZ-Außenlager
Geislingen

Schauplatz Geislingen, Eberhardstraße, Februar 1945, 17.30 Uhr. Durch die kalten Straßen der Stadt zieht schweigend eine große Gruppe kahlgeschorener Frauen in Häftlingskleidung, abgemagert, ausgelaugt, ausgebeutet. Der gespenstische Zug wird begleitet durch bewaffnete SS – Männer. Die Stille wird nur durchbrochen vom Klappern der Holzschuhe …

12-jährige Mädchen gaben ihr Alter mit 16 an um als arbeitsfähig eingestuft zu werden. So kamen sie auch zur Zwangsarbeit nach Geislingen. Hier gab es anders als in Auschwitz zwar ein eigenes Bett und Essgeschirr für jede persönlich und es gab tatsächlich mal eine Kartoffel in der Suppe. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.

Obwohl die WMF (Württembergische Metallwarenfabrik) Männer angefordert hatte, gab sie den Frauen eine Chance zu zeigen, ob sie die schweren Maschinen bedienen könnten. Die Arbeitsleistung war überraschend. Aus Angst, wieder nach Auschwitz zurück geschickt zu werden, gaben die Mädchen alles. Doch trotzdem kam es immer wieder zu Unfällen, Finger kamen unter die schweren Pressmaschinen und wurden abgetrennt. Schreie hallten immer wieder durch die Werkshalle. Medizinische Versorgung solcher Unfälle gab es nicht.  Selbst mit Fieber und schwer krank schleppten sich die Mädchen und Frauen zur Arbeit.

1938
Synagoge Göppingen, Foto: Stadtarchiv Göppingen
Synagoge Göppingen, Foto: Stadtarchiv Göppingen

9. November „Kristallnacht“ in Göppingen

Die Aktion „Kristallnacht“  war mit langer Hand von der NSDAP vorbereitet, von spontanem „Volkszorn“ wie die NWZ und GZ  berichten, kann keine Rede sein. Der Göppinger Staatsarchivar Karl-Heinz Rueß schildert die Vorgänge um die „Kristallnacht“ sehr detailliert. Allerdings brauchte seine 1998  verfasste Darstellung der Vorgänge bis zu ihrer Veröffentlichung 60 Jahre! 

Rueß schreibt: „Kreisleiter Imanuel Baptist wurde von der Gaupropagandaleitung in Stuttgart angerufen mit dem Hinweis: im Land brennen die Synagogen, die Wut des Volkes ist entbrannt. Ein genauer Befehl von der SA Ulm erreichte schließlich die Geislinger SA. Die Weisung verlangte, dass sofort sämtliche Synagogen niederzubrennen seien." 

Die Geislinger SA traf sich im Wirtshaus „Kreuz“ (gegenüber dem Rathaus direkt an der Rohrach), man fuhr mit zwei Personenwagen und einem Lastwagen, auf dem Stroh geladen war, nach Göppingen. Einer kam sogar mit dem Fahrrad nach. Vor der Synagoge wurde der Trupp schon vom SA-Sturmbannführer erwartet. Kreisleiter Baptist ließ die Alarmlinie der Feuerwehrleute abschalten. Die Geislinger SA-Männer verschafften sich gewaltsam Zugang in die Synagoge. Dort entzündeten sie das herbeigeschaffte Stroh mit Benzin. Das Gebäude brannte völlig aus. Die Feuerwehr durfte nicht zum Löschen ausrücken. Ihrem Kommandanten Karl Keuler wurde schließlich erlaubt, einen Zug ausrücken zu lassen, um das Ausgreifen des Brandes auf die Nachbarhäuser zu verhindern. 50 - 80 Schaulustige umsäumten das feurige Spektakel und begleiteten es mit antisemitischem Grölen. Weil Keuler in dieser Nacht deutlich seinen Unmut äußerte, musste er bald seine Stelle als Feuerwehrkommandant räumen.

In der Pogromnacht war noch ein zweiter Auftrag zu erledigen. Dieser war von der Staatspolizei in Stuttgart gekommen. Alle männlichen Bürger jüdischen Glaubens zwischen 16 und 65 Jahren sollten festgenommen werden. Sie wurden beim Hotel Dettelbacher zusammengetrieben und in den folgenden Tagen in das KZ Dachau transportiert, wo sie während eines mehrwöchigen Gefängnisaufenthalts oft misshandelt wurden. Beim Abholen der Männer wurden auch Wohnungen durchsucht und die Einrichtung zerstört. Beim Kaufhaus Lendt in der Unteren Marktstraße wurden die Schaufenster eingeschlagen und die Auslagen geplündert….

Die Suche nach den Tätern begann erst Ende 1946. In Gang gesetzt wurde sie durch den Göppinger Gewerkschaftsbund. 1948 wurde die Anklageschrift dem Landgericht Ulm vorgelegt. Beschuldigt wurden 15 Personen des Landfriedensbruch, der gemeinschaftlichen Brandstiftung und des schweren Hausfriedensbruchs. Der Kreisleiter Immanuel Baptist erhielt zwei Jahren Zuchthaus.

Dr. Hansjürgen Gölz

1941
Barackenplanung in Geislingen, Foto: Stadtarchiv Geislingen
Baracken

Zwangsarbeit in Geislingen

Ab 1941 wurden in Geislingen/Steige über 2.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene vorwiegend aus Osteuropa eingesetzt. Die meisten von ihnen arbeiteten bei der WMF, viele aber auch in mittelständischen Unternehmen, Klein­betrieben und in der Landwirtschaft. Die Zwangsarbeiter wurden angefordert, da eigene Betriebsangehörige zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Nachdem die Zwangsarbeiter anfangs in verschiedenen Unterkünften auf die ganze Stadt verteilt waren, wurde 1943/44 unter Leitung der ­WMF ein Barackenlager auf einem städtischen Gelände im Seebach an der Heidenheimer Straße gebaut. Von 83 Zwangsar­beitern ist bekannt, dass sie in Geislingen ums Leben gekommen sind.

1944
Barackenquerschnitt, Foto: Stadtarchiv Geislingen
Barackenquerschnitt

Schritt zum KZ-Außenlager

Der für die Kriegswirtschaft wichtige me­tallverarbeitende Betrieb WMF forderte im Jahr 1944 zusätzliche Arbeitskräfte an. Da keine weiteren Zwangsarbeiter mehr zugewiesen werden konnten, schloss die WMF einen Vertrag mit dem KZ Natzweiler-Struthof im Elsass, um in Geislingen ein KZ-Außenlager einzurichten. In Zusammenarbeit mit dem KZ wurde in der Heidenheimer Straße rasch ein mit Stacheldrahtzaun abgetrennter Lagerteil mit Wachtürmen, Lageraufseher und SS-Wachmannschaften errichtet. Ab Juli 1944 wurden insgesamt über 1.000 jüdische Frauen und Mädchen im Alter zwischen 11 und 45 Jahren im KZ-Außenlager untergebracht. Die Häftlinge stammten aus Osteuropa, vor allem aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen. Sie waren zuvor im Vernichtungslager Auschwitz als „arbeitsfähig“ eingestuft worden.

Lebensbedingungen im KZ

Die Frauen arbeiteten in zwei 12-Stunden Schichten unter Aufsicht von Betriebsmitarbeitern. Zum Schichtwechsel mussten die kahlgeschorenen Frauen vom Lager zur WMF und zurück durch die Stadt laufen, begleitet von SS-Wachleuten. Die Holzschuhe gehörten zur typischen KZ-Häftlingskleidung.

Häufig kam es durch Unterernährung und Kälte zu Krankheiten, es gab unter den Häftlingen mindestens 12 Tote in Geislingen. Mehrfach wurden kranke, nicht arbeitsfähige Frauen zurück ins Vernichtungslager Auschwitz geschickt. Über das Schicksal von rund 200 Frauen und Mädchen des Außenlagers fehlt jede Spur.

1945
Baracken Heidenheimer Straße, Foto: Stadtarchiv Geislingen
Baracken Heidenheimerstr

Ende des KZ

Im April 1945 rückte die Front immer näher. Da die Produktion bei der WMF weitgehend zum Erliegen gekommen war, drängte die Firmenleitung, das KZ aufzulösen. Kurz vor der Befreiung Geislingens durch die Amerikaner transportierte am 11. April die SS rund 800 KZ-Häftlinge in Güterwagen Richtung KZ Dachau/Allach ab.

Dort blieben sie einige Tage. Anschließend gab es wieder eine Selektion und ein Teil der Frauen wurde in Güterwaggons Richtung Tirol zu einem geheimen Arbeitseinsatz verfrachtet. Die durch Kriegseinwirkung unterbrochenen Schienenverbindungen sorgten dafür, dass der Zug tagelang in Bayern unterwegs war. Diese Frauen wurden am 29. April 1945 in der Nähe von Iffeldorf von amerikanischen Soldaten befreit. Andere erlebten ihre Befreiung in Allach.

1983
Holzkreuz mit Aufschrift "Niemals vergessen", Foto: Stadtarchiv Geislingen
1983 Holzkreuz

Debatte um Mahnmal 

Die Debatte um ein Mahnmal für die jüdischen Mädchen und Frauen des ehemaligen KZ-Außenlagers Natzweiler-Struthof in Geislingen begann erst in den Jahren 1983/84. Eine Bürgerinitiative wurde gegründet, die eine offene Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit forderte und sich um deren Aufarbeitung bemühte. Ihre Forderungen stießen auf heftige Kritik seitens des Gemeinderats.

1995
Geschundener Kopf von Heinz Knoedler
Geschundene Kopf

50 Jahre nach Kriegsende

Das 50. Jubiläum des Kriegsendes wurde in Geislingen zum Anlass genommen, die eigene NS-Vergangenheit erneut ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Im Museum im Alten Bau fand die Ausstellung „50 Jahre danach – Geislingen im 3. Reich“ statt und am Mahnmal „Geschundener Kopf“ wurde von der Stadt eine Gedenkfeier veranstaltet.

Hier geht's zur Geschichte der Aufarbeitung

2014
Nur die Wahrheit macht frei
2014 Flyer

Die Evangelische Allianz organisierte mithilfe der Stadt Geislingen und verschiedenen anderen Partnern im Mai 2014 einen Informationsabend über das KZ-Außenlager im Kapellmühlsaal der Stadt, Stadtarchivar Hartmut Gruber hielt einen Vortrag über die Lagergeschichte. Diese Veranstaltung stieß auf außerordentlich großes Interesse, etliche Zuhörer verfolgten den Vortrag stehenderweise, da der Kapellmühlsaal bis auf den letzten Platz voll besetzt war.

2015
Hermann und Rosemarie Schneider mit der Namensliste der KZ-Häftlinge, Foto: Rainer Lauschke, Geislinger Zeitung
Namensliste

Große Gedenkveranstaltung für die Frauen des KZ Geislingen im Mai

Die Evangelische Allianz und andere Unterstützer führten einen Schweigemarsch auf dem Weg vom ehemaligen KZ-Außenlager zum Tor 1 der WMF durch. Bei der anschließenden Veranstaltung in der Stadthalle begrüßte Oberbürgermeister Frank Dehmer auch die ehemalige Insassin Miryam Sobel und ihre Kinder und Kindeskinder, sowie Angehörige der Überlebenden Helen Jeckel. Miryam Sobels Enkelin Sivan Sobel erzählte ihre Geschichte. Außerdem informierten Stellwände des Stadtarchivs in Text und Bild über das KZ-Außenlager.

Verlegung der Stolperschwelle im September

Die Kulturwerkstatt der Rätsche e.V. organisierte die Verlegung der Stolperschwelle mit Gunter Demnig vor dem Tor 1 der WMF im September 2015.  Sie veranstaltete einen Gedenk- und Vortragsabend über das KZ-Außenlager, wobei die Namen aller bis dato bekannten Insassinnen unter musikalischer Begleitung vorgelesen wurden. Die Wanderausstellung „Freiheit – so nah, so fern“ über das KZ Natzweiler-Struthof und seine Außenstellen konnte im Geislinger Stadtmuseum „Museum im Alten Bau“ besichtigt werden. Informationstafeln und Ausstellungsstücken des Museums im Alten Bau und des Stadtarchivs ergänzten die Ausstellung.

Namenstafel vor der WMF

Die WMF errichtet eine Namenstafel mit den Namen aller Überlebenden des KZ - Geislingen, die auf der Transportliste nach Allach am 11. April 1945 verzeichnet waren.

Grab von Adolf Schoofs

Durch den Besuch der ehemaligen Gefangenen Helena Weksberg  in Geislingen im November 2015 rückte Adolf Schoofs wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, war es Helena doch ein großes Anliegen, dieses „hochanständigen und ehrenwerten Mannes" zu gedenken. An seinem Grab hielt sie eine Dankesrede für sein menschliches Verhalten und seine Unterstützung der Mädchen während der Zwangsarbeit. Außerdem erzählte Lenka Weksberg ihre bewegende und beeindruckende Geschichte im Kapellmühlsaal und im Michelberg-Gymnasium.

Videos zum Gedenkmarsch anschauen

2018
Rabbi Yehuda Pushkin, Foto: Markus Sontheimer, Geislinger Zeitung

Errichtung der Gedenkstätte KZ - Geislingen 

Die Gedenkstätte  KZ-Geislingen wurde eingeweiht: Informationstafeln - gefördert vom Verband der Region Stuttgart - und in Eisen gegossene Holzschuhe, sowie Zaunelemente mit Stacheldraht sollen die Erinnerung mit allen Sinnen ermöglichen. Bei der Gedenkzeremonie in der WMF berichtete der israelische Botschafter in Finnland und Estland und Nachfahre zweier ehemaliger Gefangenen, Dov Segev-Steinberg, über das Schicksal seiner Verwandten. Auch die israelische Generalkonsulin Sandara Simovich aus München hielt eine Rede.

2020
Bepflanzung der Gedenkstätte mit einer Birke, Zeichen für Trauer und Leben

Bepflanzung der Gedenkstätte zum 9. November 2020

Die Initiative "erinnern - ehren - versöhnen" pflanzte eine Trauerbirke, einen Wacholder und eine weiße Rose an der 2018 errichteten Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Geislingen am Radweg hinter der Firma Odelo.

Diese Pflanzen stehen für die Trauer über die Opfer, das Leben, das trotzdem siegt und sich in den vielen Nachkommen der Überlebenden zeigt sowie die Erinnerung, die zum "Nie Wieder" mahnt.

"Solche Zeichen gegen Antisemitismus sind wichtig", sagte Matthias Lotz in seiner Ansprache, "denn Geschichte wiederholt sich immer noch." Im Jahr zuvor war ein Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt worden und heutzutage in Deutschland lebende Juden trauen sich oft nicht mehr, eine Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen. "Wir haben die Gedenkstätte eingerichtet, weil wir FÜR die Juden sind. Das ist mehr als nur gegen Antisemitismus zu sein", so Lotz.

Zum Zeichen des Gedenkens und zur Ehre aller während der Nazi-Zeit ermordeten und unaussprechliche Qualen leidenden jüdischen Menschen wurden 30 weiße Rosen am Mahnmal angebracht.

2021
Zoom Konferenz
Gedenken via Zoom April 2021

Gedenken via Zoom, April 2021

Im zweiten Jahr der Corona-Pandemie haben sich zwei Überlebende,  Nachfahren  weiterer Überlebender, Vertreter der WMF und der Stadt Geislingen mit der Initiative „erinnern - ehren - versöhnen“ in einem Zoom meeting zum Kennenlernen und Wiedersehen getroffen. Für die Überlebenden war es eine sehr emotionale Erfahrung, ihre Geschichte in diesem Rahmen zu erzählen. Die Kinder und Enkel der Frauen, die im KZ Geislingen inhaftiert waren, erlebten diese Konferenz mit fröhlichen und ernsten Momenten als sehr bewegend und sind sehr an weiteren Treffen interessiert. Sobald das Reisen wieder möglich ist, hoffen sie auf persönliche Begegnungen in Geislingen und freuen sich auf ein Wiedersehen.

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